Auf der Suche nach einer Theorie der Architektur Band 20
Ein Vortrag an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, Juni 2005.
Alajos Landau, ein Maler, Zeichenlehrer und Kunsterzieher im Budapest des späten 19. Jahrhunderts, veröffentlichte 1882 ein Lehrbuch der Geometrie und Perspektive mit dem Titel Rajzoló geométria, zu Deutsch: Zeichnerische Geometrie. Eine der darin enthaltenen Illustrationen zeigt einen in Tracht gekleideten csikós, den Pferdehirten der ungarischen Puszta, der einen rätselhaften Punkt am Horizont fixiert, und sein Blick auf diesen Punkt wird von einem langen, geraden Schienenbett gelenkt, an dessen Seiten Stromleitungen entlangführen. Die Gestalt des csikós, die wir aus romantischen Gemälden und Gedichten kennen, wirkt in Landaus Buch wie ein Fremdkörper. In der ungarischen Kultur des 19. Jahrhunderts war der csikós ein wichtiges Symbol für die Nationaltugenden. Seine halbnomadische Lebensweise (die oft mit einer rebellischen Haltung gegenüber der Wiener Zentralregierung in Verbindung gebracht wurde), sein ungehindertes Streifen durch die weglose Steppenlandschaft der Puszta, galt als Ausdruck einer idealisierten Identität, die in deutlichem Kontrast zur Realität der rasant voranschreitenden Modernisierung des Landes stand. Die endlosen Landschaften der Puszta erzeugen die Illusion grenzenloser Freiheit. So schreibt der Dichter Sándor Pet?fi in seinem Gedicht Die Tiefebene: „Meine Seele schnellt aus ihrem Gefängnis hoch, wenn ich den endlosen Horizont der Blachfelder betrachte.“(Auszug)
Language: German