Texte zur Kunst - Heft 102 (Juni 2016)
Kunst und Mode waren immer schon untrennbar verbunden: Aufgrund der Fähigkeit der Mode, semiotische Verschiebungen schnellstens sichtbar zu machen, haben sich Künstler/innen (man denke an Manet, Degas, Sargent) wiederholt an sie gewandt, und stets haben Sammler/innen, Kritiker/innen und andere auch mithilfe modischer Kleidung sich und ihre Projekte in Szene gesetzt.
Nr. 102 ist das inzwischen vierte Modeheft von Texte zur Kunst. In der letzten Ausgabe im Jahr 2010 untersuchten wir das Versprechen der „Demokratisierung“ durch digitale Publikations- und Distributionsnetze (etwa durch Street Style und stärker in der Alltagswelt verankerte Models); die vorliegende Ausgabe argumentiert, dass diese Entwicklungen der späten Nullerjahre die bestehenden Kräfteverhältnisse zementierten und gleichzeitig zu strukturellen Veränderungen geführt haben. In der Tat: Die Branchenspitze erlebte in den letzten sechs Jahren schwerwiegende kreative Umwälzungen. Der Weg von der Peripherie ins Zentrum ist kürzer geworden, weil der Markt engeren Kontakt mit seiner jungen, sozialen Basis sucht. Kategorien wie „Luxus“, „Discount“ oder „Underground“, die ohnehin nie scharf definiert waren, greifen nicht mehr. Und zweifelsohne wurde die Mode offener für „echtere“ Körper, die nun in ihrer Einzigartigkeit gefeiert werden – jeder einzelne ein „Nodel“, eine Inkarnation des Anderen im Strom singulärer Identitäten entlang einer Skala der Hyperindividualisierung.Wie trägt die Mode selbst diese Bedingungen nach außen; wie haben ihre traditionellen Marker – die Silhouetten, die Materialität, die Attitüden – hierauf reagiert? Zwar wird diese Frage im Heft auf verschiedene Weise adressiert, doch stärker noch interessiert uns eine andere: Wie haben sich die Funktionsweisen des Systems gewandelt, welche Strategien werden heute von den interessanteren seiner Protagonisten angewandt? Tatsächlich scheint die Korrespondenz zwischen Mode und Kunst zunehmend in konzeptionellen Praktiken zu liegen, mit denen unsere langjährigen Leser/innen recht vertraut sein sollten: Parasitismus, Kollektivität und verschleierte Autorschaft, Détournement oder Formen der Institutionskritik (ob diese Institutionen nun Power-Labels auf LVMH-Niveau sind oder andere Plattformen des Massenmarkts wie Zara und Net-a-Porter).Veranschaulicht wird das Konzept auch in den über die Ausgabe verteilten Modeprofilen. Rob Kulisek und David Lieske (die mit Isabelle Graw und der Redaktion dieses Heft konzipiert haben) haben ausgewählte Individuen und Kollektive von Martine Rose über Kyle Luu bis Bernadette Van-Huy fotografiert, die das Spektrum der diskutierten Themen veranschaulichen: ein neuer Schwerpunkt auf Community statt auf (der konventionellen Ästhetik von) Sex; eine Ablehnung der Mega-Celebrity, während die Starlogik vermehrt im Lokalen gefördert wird; die -verstärkte Präsenz von Sportswear auf dem Runway, die Funktionalität auf ihren Signalwert reduziert. Die Texte der Kurzprofile, die formal an die Konventionen kommerzieller Modeberichterstattung angelehnt sind, stammen von Harry Burke (HB), Tess Edmonson (TE), Jack Gross (JG) und Bianca Heuser (BH).Um die aktuellen Entwicklungen der heutigen Modewelt einzuordnen, mag auch die Musikindustrie der 1990er Jahre als Folie dienen, die sich bekanntlich lange hartnäckig gegen einen Umbruch sträubte, der am Ende unvermeidlich war – so lautet ein Vorschlag in unserem Mode-Interview. Jessica Gysel (Chefredakteurin und Herausgeberin der Zeitschrift Girls Like Us), Lotta Volkova Adam (Stylistin für Balenciaga, Gosha Rubchinskiy, Vetements), Malerin Lucy McKenzie und Modedesignerin Beca Lipscombe (die gemeinsam das Kunst/Mode-Projekt Atelier E.B. führen) diskutieren hier die neuen Vorgehensweisen von Parasitismus über Kollektivismus bis hin zur Disruption des Egowahns, die in diesem Wirtssystem, das kurz vor der Erschöpfung seiner Produzenten und seiner Konsumenten steht, nun Erfolg versprechen.Für die New Yorker Autorin und Redakteurin Natasha Stagg dagegen ist der Zusammenbruch des Luxusideals bezeichnend für die heutige Zeit. Sie betrachtet diejenigen Strategien, die Marken anwenden, um angesichts der wachsenden Bilderflut, der Macht der Social-Media-Celebrity-Kultur und des Zwangs zum schnellen Onlinegeschäft doch noch das feine Begehren auszulösen, das die Mode antreibt. „Begehren“ ist auch ein Thema in Philipp Ekardts Beitrag, der nachzeichnet, wie dieses im Label J. W. Anderson des Londoner Modeschöpfers Jonathan Anderson zum Tragen kommt: In den jüngsten Kollektionen der Marke – und speziell in Andersons Entscheidung, die Präsentation seiner Männerkollektion AW 2016 live über Grindr zu streamen – identifiziert Ekardt eine Evolution der Geschlechtscodierung, eine Privilegierung von Community gegenüber Sex(ualität). Caroline Bustas Beitrag widmet sich dagegen der aktuellen Rhetorik, den Körper als „rein“ zu verstehen und von der äußeren Welt bedroht, von deren „Toxizität“, die bis auf Zellebene übergreift. Dabei untersucht Busta den Wandel der Formen der Körperpflege und deren soziale Zwänge: Prozesse interner Reprogrammierung, so schreibt sie, sind heute der bevorzugte Modus der (Foucault’schen) Sorge um sich.Mode ist weiterhin ein Echo der Vergangenheit. Aktuell sind Einflüsse des japanischen Designs der 1980er und der New Yorker Club-Kids-Szene der 1990er auszumachen (so etwa in den dekonstruierten Silhouetten von Vetements oder den Entwürfen von Nasir Mazhar, die Funktionskleidung als Club Wear zweckentfremden) – doch ist dies nicht als nostalgische Regression zu werten, sondern eher als materielles Bild der viel beschworenen „Krise“. Wo, fragt die Literaturwissenschaftlerin Ingeborg Harms, liegt der Ursprung dieser aktuellen Ästhetik der Verletzlichkeit, der „verbrauchten“ Looks, der Verschleierung und Transformation von Körperformen? In der Identifikation mit Radikalität? In der Faszination für das angeblich Andere? Oder vielleicht einfach im Wunsch, anonym zu bleiben?Wenn jede/r eine (Micro-)Celebrity sein muss, ist Unsichtbarkeit ein rares Gut – man könnte sagen, ein Luxus. In ihrer Untersuchung der Partyfotografie der Post-Millenials, die die Ausgabe abschließt, überlegen Calla Henkel und Max Pitegoff, ob die Verweigerung von Bildern heute zu einem noch wirksameren Instrument der Markenpolitik geworden ist, als es die Nightlife-Fotografie der Nullerjahre war (wie man sie von Purple.fr oder 032c.com kennt). Denn: All die Vorschläge für eine offenere Industrie, all die „dunkleren“ Styles und Formen der Verweigerung, die sich als revolutionär kodieren, mögen zwar andeuten, dass die Tage schlanker Körper in enger Kleidung, mit glänzendem Haar und perfektem Lächeln gezählt sind. Doch Branding-Strategien, so rufen Pitegoff und Henkel in Erinnerung, bleiben uns mit Sicherheit erhalten. (Editorial) Sprache: Deutsch/Englisch