Vom Wesen des Nackten
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Das Nackte ist ein ureigenes Phänomen der europäischen Kultur, das alle Länder, Epochen und Künste des Okzidents verbindet. In der Skulptur, der Malerei und der Photographie des Westens, von Griechen über die Renaissance bis zur Photographie etwa eines Ralph Gibson: der Akt gehört zu den größten Herausforderungen der Künste. Selbst die Kirche verbarg zwar das Geschlecht, doch bewahrte das Nackte.
Jedoch gibt es einen großen Kulturraum, in den das Nackte nicht eingedrungen ist: China. Diese Tatsache erscheint um so erstaunlicher, wenn man sich die lange Tradition der chinesischen Kunst vor Augen führt, in der vor allem in Bildhauerei und Malerei die figürliche Darstellung hoch entwickelt war. Die Abwesenheit des Nackten ist in China jedoch radikal und ausnahmslos. Das Nackte erweist sich dort als unmöglich.
Über die radikale Abwesenheit des Nackten in der chinesischen Kunst und deren eigentümliche Darstellungstechniken, die Jullien kenntnisreich beschreibt, gelangt der Autor zur grundsätzlichen Frage nach den Möglichkeitsbedingungen und der Bestimmung des Nackten überhaupt. Wie ist das Wesen des Nackten aus einer theoretischen Perspektive zwischen Körper und Nacktheit, zwischen Begehren und Scham zu erklären? Das Nackte und seine Ontologie bildet nicht nur den Leitfaden einer Suche nach dem Wesen und der Präsenz, sondern wird auch zum Objekt eines Denkens, das von seiner Unmöglichkeit ausgehen mußss: »das unmögliche Nackte«.
François Jullien, Jahrgang 1951, lehrt an der Universität Paris VII klassische chinesische Philosophie und Ästhetik, ist Direktor des UFR (Langues et Civilisations de l`Asie Orientale) und war Präsident des Collège International de Philosophie.